Angst vorm Wolf "Vorsicht vor diesen Häufchen" - von der medialen Treibjagd auf den Wolf und der Scheinheiligkeit, anderswo die Welt zu retten.
Vorsicht vor diesen Häufchen!
Wenn wir nicht am Leben selbst sterben, dann raffen uns bevorzugt Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Diabetes, Verkehrs- und selbst Durchfälle dahin, das hat die Weltgesundheitsbehörde ermittelt. Auf der Liste der häufigsten Todesursachen ist er also nicht zu finden und auch nicht auf jener der gefährlichsten Tiere weltweit. Dort stehen – an der Spitze der Hitliste tierischen Verderbens – winzige Mücken, Schnecken, Schlangen und Frösche.
Die Rede ist vom Wolf, der zwar in keiner Statistik als Killer dafür aber in so gut wie allen Zeitungen dieser Republik aktuell als Bedrohung, ja schon fast nationaler Sicherheit, in den Schlagzeilen eine Rolle spielt. Gesprochen wird dann oft vom „nachgewiesenen Wolf“, als habe man ein Verfahren entwickelt, mit dem das leibliche Vorhandensein dieser Spezies in heimischen Gefilden zweifelsfrei zu ermitteln sei, ganz so wie weiland im Biologieunterricht Stärke mittels Iodprobe in der Kartoffel.
Am einfachsten scheint der hundertprozentige Nachweis zu erbringen, indem man den Wolf einfach überfährt. Liegt er dann leichenstarr am Straßenrand, erkennt es auch der Laie auf den ersten Blick: Das tote Tier ist ein toter Wolf!
So geschehen im Spessart, bei Bad Soden Salmünster, im Main-Kinzig-Kreis, nahe Celle oder jüngst bei Bordesholm in Schleswig-Holstein.
Oder anders gesagt: Wären wir – proportional gesehen – bei der Bekämpfung der Anopheles-Mücke so erfolgreich, wie im„Straßenkampf“ mit dem Wolf, die Malaria gälte als so gut wie besiegt.
Die großen Drei, so werden Bär, Luchs und Wolf auch gern genannt, waren einmal weithin verbreitete heimische Raubtiere. Dem Vierten im Bunde, dem Menschen, ist es über Jahrhunderte gelungen, sie nahezu auszurotten. Der Wolf kehrt nun zurück zu uns und ist hier so willkommen, wie die dreizehnte Fee bei der Taufe von Dornröschen. Überhaupt Märchen – um kein anderes Tier kreisen mehr Legenden und Horrorgeschichten als um Isegrim, den Wolf; ein Fabeltier, eine dunkle, wilde Gestalt im Schauermärchen und neuerdings unfreiwillig gekrönt ein (Schlagzeilen-)König der Tiere.
Er lüge, sei rücksichtslos, gierig und böse, so beschreibt ihn die Fabel. So muss er auch sein, anders ist die Angst vor ihm nicht zu erklären. Eine Angst, die auch renommierte Tageszeitungen dazu bringt, uns einen kreuzbraven, alten Deutschen Schäferhund im schummrigen Licht einer Straßenlaterne als Wolf zu verkaufen, fotografiert von zwei Schülerinnen bei Nacht.
„Herausforderung Wolf“, „Der Wolf geht um“, „Schaf in Ostwestfalen gerissen“, „In Deutschland wächst die Angst vor Wölfen“, „Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“ – die schnelle Schlagzeile auf vier Pfoten ist ein Garant für Aufmerksamkeit und im Netz für hohe Klickzahlen. Unübertroffen das Blatt mit den vier großen Buchstaben, das jüngst auf seinem Titelbild eine Wurst aus Haar und Fell mit dem Meterstab vermisst, um dann zu titeln: „Vorsicht vor diesen Häufchen!“ Woraus man schließen darf, dass nicht allein der Wolf gefährlich ist. Man solle es, glaubt man der Überschrift samt Bild, besser auch nicht mit seinem Kot aufnehmen.
Der Wolf spaltet die Nation, entfacht Debatten und hitzige Diskussionen, ja er „breitet sich in Deutschland aus“, wie die Süddeutsche schreibt. Und nicht nur da, er nistet sich auch ein im Bewusstsein und in unseren Gedanken, wo er Urängste weckt.
Taucht seine Rute irgendwo auf zwischen Garmisch und Flensburg, dann meist mit der Unterstellung „atypischen Verhaltens“, gerade so, als gäbe es zum Thema „Der Wolf und das Reihenmittelhaus“ bereits Langzeitstudien. Also darüber, wie sich das Tier zu verhalten habe in Ballungsräumen, in denen schon der Mensch kaum Schutz findet vor Verkehr, Lärm und Industrie. Im Cicero ist auch die Rede von einer„gefährlichen Willkommenskultur“, einem „Fachterminus“ dem der besorgte Europäer sonst eher dann begegnet, wenn es um die Zuwanderung menschlicher Flüchtlinge aus Krisengebieten geht.
Zwischen dem Rotkäppchen-Mythos und der naiven Verharmlosung eines Raubtieres liegen ganz sicherlich mehr als ein paar gerissene Schafe. Würde mich morgens auf der Weide ein Wolf begrüßen, ich würde vermutlich in nackter Angst jeden Satz bereuen, den ich je zum Thema geschrieben habe.
Aber – es geht um eine grundsätzliche Frage und die lautet:
Mit welchem Maß messen wir, wenn wir uns nur dort für den Schutz wild lebender Tiere stark machen, wo wir ihnen maximal aus der Sicherheit eines Safari-Busses begegnen? Mit welchem Recht wollen wir Wilderern in Afrika das Handwerk legen, Tiger in Sibirien und Indien vor dem Aussterben bewahren, Japanern und Isländern den traditionellen Walfang vergällen? Was sind uns Braun- und Eisbär, Elefant und Panda, Nashorn und Menschenaffe, wenn wir scheitern vor der eigenen Tür?
Bei uns draußen lebt ein Fuchs. Vielleicht holt er sich irgendwann eine meiner zahmen Laufenten. Das wäre traurig. Für die Enten. Und auch für mich. Aber es wäre auch ein letztes bisschen Natur, das angeblich so viele von uns so sehr lieben. In Magazinen, Katalogen, auf Hochglanzbroschüren, in Filmen und wenn wir Urlaub machen.
In den Ländern übrigens, in denen der Wolf und andere große Beutegreifer nie ausgestorben waren, wurde die Tradition der Arbeit mit Herdenschutzhunden nie unterbrochen. Vielleicht findet sie ja auch bei uns wieder Einzug, ganz wie der Wolf selbst, wenn ihn bis dahin nicht die fetten Lettern der fetten Schlagzeilen auf seinem Weg zurück in die Zukunft erschlagen haben.