Die grossen Beutegreifer fehlen.
Ihr Rückgang hat einer Studie zufolge weit größere Umweltauswirkungen als bislang vermutet.
Der Schwund dieser Tiere gefährde den Artenreichtum von Vögeln, Säugetieren und Wirbellosen und habe auch Folgen für Vegetation, Landwirtschaft und sogar für den Klimawandel. Das berichtet ein internationales Forscherteam im Fachblatt "Science". Um die Ausrottung der grossen Beutegreifer und die damit einhergehenden Folgen zu verhindern, regen die Wissenschaftler eine globale Initiative zum Schutz der Tiere an.
Mehr als die Hälfte der 31 grössten Beutegreifer sind in der Roten Liste der bedrohten Arten als gefährdet eingestuft, schreiben die Forscher um William Ripple von der Oregon State University (Corvallis/US-Staat Oregon). Die Populationen von 75 Prozent dieser Arten schrumpften, ebenso wie ihre Lebensräume. Um die Situation konkreter zu erfassen, konzentrierten sich die Forscher auf sieben grosse Beutegreifer: Löwe, Dingo, Puma, Leopard, Luchs, Wolf und Seeotter. Aus verfügbaren Daten ermittelten sie, wie sich ein Verschwinden der Tiere auf ihre jeweiligen Ökosysteme auswirkt.
Meist seien die Folgen weithin spür- und sichtbar, berichten sie. So seien in Westafrika mit dem Rückgang von Löwen und Leoparden die Bestände der Anubispaviane stark angewachsen. Daraufhin schrumpften die Populationen kleiner Paarhufer und Primaten, die von Pavianen gefressen werden. Ausserdem bedrohten Pavian-Horden Farmtiere und machten sich über Feldfrüchte her. In den Gewässern von Südost-Alaska führte der Rückgang von Seeottern zu einem starken Anstieg der Zahl von Seeigeln, die dann die Kelpwälder abweideten, schreiben die Forscher.
70 Jahre lang heulten keine Wölfe mehr im Yellowstone Nationalpark in den USA. 1926 war der letzte erschossen worden. Ihrer Jäger beraubt, breiteten sich darauf hin Rothirsche massiv aus. Dann wurden 1995 die ersten Wölfe in den Nationalpark zurückgebracht. Der Ökologe William Ripple von der Oregon State University untersucht seitdem die Auswirkungen dieser Wiederansiedlung.
"Die Rückkehr des Wolfs hat einen Effekt ausgelöst, den wir als trophische Kaskade bezeichnen: die Folgen wirken im Nahrungsnetz bis weit nach unten. Wölfe fressen Wapitis, Elche und vor allem Rothirsche. Die wiederum fressen bestimmte Pflanzen. Wenn sie vom Wolf getötet werden, beeinflusst der Wolf also indirekt auch die Pflanzenwelt."
Ähnliches lasse sich beim Verschwinden von Wölfen in anderen Erdregionen beobachten: Die Zahl von Elchen und anderen Hirschen, die viele Pflanzen fressen, steigt infolgedessen an. Der Rückzug der Vegetation wirkt sich wiederum auf Vögel oder kleinere Säugetiere in dem Ökosystem aus. William Ripple ist überzeugt davon, dass die Wölfe das Ökosystem des Yellowstone Nationalparks wieder ins Gleichgewicht gebracht haben.
"Wölfe jagen das ganze Jahr über Rothirsche. Dadurch liefern sie einer ganzen Reihe von Aasfressern, wie Raben oder Adlern, eine stete Nahrungsquelle, die ihnen hilft, den Winter zu überleben. Wenn es die Wölfe nicht gäbe, wären die Aasfresser auf einzelne besonders heftige Schneestürme angewiesen, bei denen viele Rothirsche verenden. Die Wölfe machen die Aasfresser also unabhängiger von kurzfristigen Klimaschwankungen und stabilisieren so die Populationen."
Aber auch andere grosse Beutegreifer nützen ihren Ökosystemen. In Finnland gibt es seit einiger Zeit wieder mehr Luchse. Sie drängen die Füchse zurück. Dadurch erholen sich die Bestände von Auerhuhn und Birkhuhn. Ähnlich sieht es in Australien aus, sagt die Biologin Arian Wallach. Sie untersucht an der James Cook University, welche Rolle die einzigen großen australischen Landraubsäuger spielen, die hundeähnlichen Dingos.
"Dingos verdrängen Füchse, und das sehr effektiv. Sie löschen die Fuchspopulationen nicht direkt aus, aber sie halten sie sehr klein. Das hilft den Beutetieren der Füchse, sich wieder zu erholen."
Füchse wurden aus Europa nach Australien eingeschleppt. Arian Wallach ist überzeugt davon, dass der Schutz des Dingos den verbliebenen Arten wesentlich mehr helfen würde, als der Einsatz von Giftködern, mit denen zurzeit versucht wird, die Füchse in Australien zurückzudrängen. Trotz des nachgewiesenen Nutzens grosser Beutegreifer sind diese zunehmend vom Aussterben bedroht. Das sei eine gefährliche Entwicklung, warnt William Ripple von der Oregon State University.
Zumindest in einigen Fällen seien die Veränderungen umkehrbar, berichten die Forscher. Im Yellowstone-Nationalpark hätten sich einige Bereiche nach der Wiedereinführung der Wölfe rasch erholt. "Ich bin beeindruckt, wie widerstandsfähig das Yellowstone-Ökosystem ist", kommentiert Ripple.
Globale Initiative zum Schutz der Tiere
Neben dem Klimawandel sei das Verschwinden der grossen Beutegreifer einer der bedeutendsten Einflüsse des Menschen auf die Natur – allerdings ohne vergleichbare Beachtung der Öffentlichkeit zu finden. Daher schlagen die Forscher eine globale Initiative zum Schutz der Tiere vor. Ein Ziel davon sei, Akzeptanz und Toleranz der Menschen für die grossen Beutegreifer zu gewinnen. "Wir sagen, dass diese Tiere ein Recht haben zu leben, aber sie haben auch einen ökonomischen und ökologischen Wert, den Menschen schätzen", betont Ripple. Allein dem Yellowstone-Nationalpark bringe der Wolf-Tourismus jährlich 22 bis 48 Millionen US-Dollar, betonen die Wissenschaftler.
"Wenn wir die großen Raubtiere sterben lassen, wäre das eine Tragödie. Die Ökosysteme der Erde würden verarmen, die Nahrungsnetze verkrüppeln und der Mensch würde den ökonomischen und ökologischen Nutzen verlieren, den diese Tiere uns bieten."
Selbst auf den Klimawandel hätten grosse Beutegreifer in einigen Ökosystemen positiven Einfluss: Sie halten Pflanzenfresser in Schach, so dass die Vegetation besser gedeihen und Kohlendioxid einlagern kann.