
Einige gehen auf die Jagd, andere hängen sich Goldrahmen an die Wand oder lernen Golf. Was früher als fürchterlich bürgerlich galt, lieben heute mehr und mehr Studenten. Warum nur?
Durch den Wald hallt ein greller Schrei. Er geht durch Mark und Bein. War das ein Mensch? Student Tobias Edel klettert auf einen Hochsitz nahe Lüdenscheid, von dem er einen guten Ausblick auf den Waldrand hat, ein Maisfeld und eine Wiese. Er schaut durch das Zielfernrohr seines Gewehrs - dann weiß er, was es mit dem Schrei auf sich hatte.
"Ein schreckendes Reh", sagt der 20-Jährige in Jägersprache. "Dort im hohen Gras liegen bestimmt noch mehr." Tatsächlich traut sich bei einbrechender Dämmerung eines der nervösen Tiere aus der Deckung, um auf der Wiese zu grasen. "Keine Angst, ich schieße nicht", flüstert Edel, der anstelle eines grünen Jankers mit Filzhut einfach eine braune Lederjacke trägt.
Wer den Studenten des Wirtschaftsingenieurwesens begleitet, nimmt Dinge wahr, die vorher nicht da gewesen zu sein scheinen. "Dort drüben, wo das Gras aufgewühlt ist - das waren Wildschweine", erklärt er, während ein Specht gegen einen Baumstamm hämmert. "Da hinten, da ist ein Dachsbau, und am Ende des Maisfelds stehen noch mehr Rehe", sagt Edel. Der Jungjäger zeigt auf ein paar schwarze Punkte in der Ferne, die sich kaum von der zunehmenden Dunkelheit abheben.
Hat er keine Probleme damit abzudrücken? "Die meiste Zeit beobachte ich nur, doch wenn es nötig ist, schieße ich auch. Die Hege, also die Pflege des Wildbestands, nimmt aber den viel größeren Teil ein", antwortet Edel.
Jünger, weiblicher, moderner
Weil er so begeistert ist von seinem Hobby, hat sich der Student aus Darmstadt hinterm Haus seiner Eltern in Lüdenscheid sogar eine eigene Jagdhütte eingerichtet - mit Geweihen an den Holzwänden und Schädeln, die er selbst abkochte. Außerdem ist er Mitglied in zwei Jagdhornbläservereinen und pflegt die Facebook-Gruppe "Studenten auf Jagd", in der sich Hochschüler aus ganz Deutschland austauschen über das, was sie so erleben in Wald und Flur.
Edel mag besonders leidenschaftlich und begeistert sein, aber er ist mit seiner Freude an der Jagd und ihren alten Traditionen längst kein Außenseiter mehr an den deutschen Unis. Die Jägerschaft in Deutschland werde immer jünger, weiblicher und moderner, teilt der Deutsche Jagdverband mit. Und sie wachse stetig: Gegenüber 2004 ist die Zahl der Jäger um rund 23.000 gestiegen.
Noch vor wenigen Jahren hätte man bei den meisten Kommilitonen für Stirnrunzeln gesorgt mit Geschichten vom fröhlichen Halali. Heute feiert vieles, das lange als fürchterlich bürgerlich galt, ein Revival. Das gilt nicht nur für die Jagd, sondern auch für Benimmkurse, Weinabende und seit einiger Zeit auch für den Möbelgeschmack.
Tischmanieren? Wollen wir lernen!
"Es gibt nichts Schöneres, als die Natur intensiv zu erleben", sagt Student Edel. Seinen Jagdschein hat er als 18-Jähriger in den Sommerferien gemacht, während eines dreiwöchigen Kurses in Mecklenburg-Vorpommern, der 1100 Euro kostete. "Da musste ich viel lernen, auch viel Theorie - nicht umsonst heißt die Jagdprüfung 'Grünes Abitur'." Bevor er sich irgendwann ein eigenes Revier pachten kann, hilft er jetzt erst einmal älteren Jägern bei der Hege - und darf zur Belohnung ab und zu mal ein Tier schießen. Den Vorwurf, die Jagd sei konservativ oder elitär, könne er überhaupt nicht nachvollziehen, sagt Edel - und viele seiner Kommilitonen auch nicht.
Wie sehr sich die studentischen Leidenschaften geändert haben in den vergangenen Jahren, hat auch Stefan Grob festgestellt. Dem Sprecher des deutschen Studentenwerks ist zum Beispiel aufgefallen, dass an den Universitäten derzeit all jene Abendkurse großen Zuspruch finden, die sich mit Tischsitten oder Weindegustation beschäftigen. "Da gibt es einen regelrechten Run", sagt er.
Nachwuchsjäger Edel denkt bei der Jagd nicht unbedingt an die Zeit nach der Uni. Allerdings glaubt er, dass die Jagd die Sinne schärft, was ja auch helfen kann im späteren Berufsleben. Es ist inzwischen 19 Uhr geworden, und der Hobbyjäger sitzt noch immer auf seinem Hochsitz. Er erzählt, wie er sich auf dieser Wiese einmal an eine Gruppe Wildschweine herangerobbt und dann auch noch eines geschossen hat.
Doch heute wird das wohl nichts mehr mit dem Jagdglück. Es ist bewölkt, der Mond scheint nicht hell genug, und auch Edel kann nichts mehr erkennen. Er steigt vom Hochsitz. Es ist Freitagabend, er will noch auf eine Party. Schließlich ist er ein Student.
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